Allgemein

Wie geht man mit den Asuras im Hinterhof um?

Deutsche Vorversion für den Vortrag zur Europäischen Shin-Konferenz

von Marc Nottelmann-Feil

I.

Im Leben des Bodhisattva Nāgārjuna, einer Legendensammlung aus dem 5. Jahrhundert, lesen wir, dass Nāgārjuna einem König, der dem Buddhismus feindlich gegenüberstand, als General diente. Der König war sehr von seiner eigenen Weisheit überzeugt. Als er von Nāgārjunas Weisheit hörte, wollte er ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: „Was machen die Götter gerade jetzt?“ Nāgārjuna antwortete: „Die Götter kämpfen gegen die Asuras!“ Der hochmütige König war nun verwirrt, denn natürlich konnte er die Aussage weder beweisen noch widerlegen. Jedoch zeigte ihm Nāgārjuna den Sachverhalt direkt. Es fielen zunächst Waffen und Rüstungen vom Himmel, anschließend die abgeschlagenen Körperteile der Asuras. (Li, Rongxi (transl.): The Life of Nāgārjuna Bodhisattva in: Lives of Great Monks and Nuns (Berkeley: Numata Center for Buddhist Translation and Research, 2002) p.25-27)

Wenn man auf die dreizehn Jahre zurückblickt, die seit der Europäischen Shin-Konferenz in Kyoto vergangen sind, als wir über ein ähnliches Thema, Yo naka annon nare – May peace prevail the World! diskutierten, so scheint sich die Welt von “annon”, dem Frieden, weiter entfernt zu haben als je. “Annon”, so erklärte ich damals, ist nicht nur der Friede der Menschen untereinander, sondern es ist auch der Friede mit den Gottheiten und damit ist letztlich der Friede des Menschen mit der Natur gemeint. Es scheint, dass der Mensch gegen die Natur kämpft. In diesem Aspekt ist er wie ein Asura, der gegen die Götter kämpft. Vielleicht ist die Menschheit als Ganzes, mithilfe von Technik und Wissenschaft, schon in einen Bereich hineingewachsen, den man zu Zeiten des Buddha als Asura-Bereich bezeichnet hätte.

Natürlich leben wir nicht in der mythologischen Welt der Nāgārjuna-Legende. Wir sehen keine abgeschlagenen Arme und Beine von Asuras vom Himmel herabfallen. Aber der Planet eilt von Temperaturrekord zu Temperaturrekord. Ich habe im letzten Herbst durch Dürre abgestorbene Wälder in Kalifornien gesehen, und ich sehe dasselbe Phänomen in Deutschland. Im Denken der alten Völker waren die Winde Götter und Halbgottheiten, und der Jetstream war eine von Ihnen. Die Menschheit hat es anscheinend geschafft, eine solche Gottheit zu „töten“. Die Konsequenz tragen wir Menschen selbst. Niemals wird die landwirtschaftliche Produktion in Kalifornien mehr so groß sein wie in den 2010er Jahren, niemals wird die Forstwirtschaft in Deutschland so viel Holz ernten wie damals.

Wir Menschen verhalten uns also wie Asuras gegenüber der Natur, sondern auch wie Maras gegenüber den Mitmenschen. Nicht Harmonie ist die neue Herrschaftsform, sondern Disharmonie. Informationssteuerung und Informationsüberflutung sind Mittel, mit denen man in den Demokratien zur Zeit die Macht an sich reißen kann. „Behaupte Unwahrheiten in einem Tempo, dass man mit der Wahrheitsfindung nicht mehr hinterherkommt. Diskreditiere jeden ohne alle Scham oder Redlichkeit. Solange du Aufmerksamkeit für dich selbst erlangst, wird deine Macht wachsen.“ Manche Methoden wie Fake News, zur Schau gestellte Demütigungen anderer und gewisse Methoden zur Spaltung der Gesellschaft sind schon in den 1930er Jahren von den Nazis erfolgreich angewendet worden. Aber was sind Radio, Lautsprecheranlagen und mitgelesene Briefe im Vergleich zu den sozialen Medien und zur Datenüberwachung im Internet?

II.

Was kann der Einzelne tun, wenn er in einer Gesellschaft lebt, in der die Disharmonie politisch genutzt wird und in der sich die Angst allmählich ausbreitet?

Das erste KZ der Nazis lag nicht in Osteuropa, sondern in Oranienburg nördlich Berlin, und es war nicht gegen die Juden gerichtet, sondern gegen die politischen Gegner. Es waren wenige Häftlinge dort und es geschah nicht viel, wenn man es mit den späteren Vernichtungslagern vergleicht. Vielleicht wurden dem Opfer ein paar Knochen gebrochen, ein Zahn ausgeschlagen, der Bart ausgerissen. Wichtig war, dass die Opfer in irgendeiner Weise gezeichnet herauskamen, damit sie allen Menschen in ihrer Umgebung erzählen konnten, dass man ab sofort in Deutschland ohne Anklage, ohne Verteidigung und ohne zeitliche Begrenzung inhaftiert werden kann – Aber keine Angst! Ein solches Schicksal widerfährt nur Menschen, die als Nazi-Gegner aufgefallen sind!

Heutzutage werden unsere Daten – seien unsere Bemerkungen in den sozialen Medien, die Liste der Bücher, die wir von der Stadtbibliothek ausgeliehen haben, unsere persönlichen Daten – von irgendwelchen intransparenten Algorithmen gefiltert und bewertet. Es ist sehr gefährlich, wenn der Staat auf solche Daten zugreifen will. Dann entscheidet sich am Ende eine politische Mustererkennung, ob man ein Einreisevisum bekommt, an der Universität studieren darf oder als Lehrer vom Staat übernommen wird. Im dritten Reich lautete die Maxime der meisten Deutschen: Zeige keinen offenen Widerstand! Sonst bekommst du Probleme! – Ich befürchte, ein ähnliches Denken verbreitet sich auch in der gegenwärtigen Situation. Selbst in Deutschland haben die meisten Menschen schon das Gefühl, dass man damit vorsichtig sein muss, seine Meinung zu sagen. (Nach Statistika ist Deutschland in Bezug auf die Pressefreiheit hinter einigen [meist nord-] europäischen Ländern auf Platz 10. Aber nur noch 40 % der Befragten gaben 2023 an, sie hätten das Gefühl, noch frei und ohne Vorsicht ihre Meinung äußern zu können.)

Es gibt am Anfang einer politisch-gesellschaftlichen Katastrophe eine Phase, in der der direkte Widerstand das gebotene Mittel ist. Diese Phase ist kurz. Man darf sie nicht verpassen. Pastor Niemöller, der fast acht Jahre seines Lebens im KZ Sachsenhausen (bei Berlin) und im KZ Dachau (bei München) zubrachte, hat seine unpolitische Haltung am Anfang der Nazi-Ära später tief bereut:

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Was passiert, wenn der worst case eingetreten ist und sich eine alternative Rechtssprechung etabliert hat, wie das in Deutschland etwa nach einem Jahr der Nazi-Herrschaft der Fall war? Im Deutschland der Nazi-Zeit hatte man zwei Optionen, wenn man moralisch integer bleiben wollte: die Emigration ins Ausland und die sogenannte innere Emigration. Innere Emigration bedeutet, dass man sich in seine privaten Angelegenheiten zurückzog, wodurch man die Angriffsfläche, die man den Nazis bot, verkleinerte. Man verzichtete auf eine große Karriere und schwieg zur Politik. Einige Schriftsteller schrieben z.B. Kinderbücher, die meisten Priester und Geistlichen, die sehr gut wussten, dass die Naziideologie bösartig war, betrieben Gemeindearbeit und widmeten sich den Alten und Kranken. Das Festhalten am Widerstand, wenn man ihn überhaupt als dritte Option bezeichnen will, musste verdeckt geschehen. Widerstandskämpfer mussten ständig lügen, sie kamen ständig moralisch in die Zwickmühle. Dietrich Bonhoeffer, der große, später von den Nazis ermordete evangelische Theologe, hat eine Theorie der Wahrheit entwickelt, die die Verantwortung für eine Lüge unter gewissen Umständen nicht dem Lügner, sondern dem Fragesteller zuwies. Dies ist kühn gesprochen und wenig überzeugend.

III.

Shinran war in seinem Leben mit der Verleumdung und Verfolgung des Nembutsu konfrontiert, und er hat, so denke ich, zwei Strategien gegen die Asuras und Maras seiner Zeit gewählt. Man kann diese Strategien grob mit der inneren und äußeren Emigration vergleichen. (Ein Vers, in dem Shinran auf den direkten Widerstand zu sprechen kommt, findet sich in „Hymns in Praise of Prince Shōtoku“ : There are those who seek to destroy temples, pagodas, and the Buddha-dharma / And to bring the nation and sentient beings to ruin. Such people are reincarnations of Moriya; / They should be repudiated and overcome (厭却降伏)” CWS p. 445)

Der vierzigjährige Shinran wählte die äußere Emigration, als er nach seiner Verbannung nicht nach Kyōto zurückkehrte, sondern nach Hitachi in Ostjapan zog. Offensichtlich hatten in Hitachi die Gegner der Nembutsu-Lehre keinen großen Einfluss. Wenige Jahre, nachdem Shinran Hitachi verlassen hatte, versuchte der dritte Patriarch der Jodo-Schule, Ryōchū, in Kazusa, d.h. nicht weit von Shinrans ehemaligen Missionsgebiet einen Tempel zu errichten. Das für seine Zeit ungewöhnliche Projekt scheiterte, aber nicht am Widerstand der staatlichen Autoritäten, sondern an der Landbevölkerung, die es nicht finanziell tragen wollte. In der Nähe des Flusses Tonegawa schien also allerhand möglich zu sein, was in der Hauptstadt noch lange undenkbar war. (梶村昇「聖光と良忠。浄土宗三代の物語」浄土宗出版 2008 Kajimura, Noburu: Shōkō to Ryōchū. Jōdoshū sandai no monogatari, [Jōdoshū shuppan 2008] p. 187ff)

Nach Kyōto zurückgekehrt, lebte Shinran in innerer Emigration. Er machte sich so klein wie möglich, fiel niemandem auf. Er schützte damit seine Arbeit und wohl auch seine Familie, sofern sie ihm nach Kyōto gefolgt war, vor den immer wieder aufflammenden Repressionen des Nembutsu. Wenn man Shinran mit dem deutschen Reformator Martin Luther vergleicht, oder auch mit seinem jüngeren Zeitgenossen Nichiren, so haben sich letztere ganz direkt zur Zeitgeschichte geäußert. Shinran nicht. Seine Schriften sind, wenn man sie wörtlich nimmt, vollkommen unpolitisch.

Die Haltung der „inneren Emigration“ ist bei Shinran tief verankert. Sie ist sein eigentliches Denken im Umgang mit schwierigen politischen Verhältnissen. Wir fragen heute „Wie wird man resilient in widrigen Umständen?“ Shinran stellte die gleiche Frage mit anderen Wörtern: „Wie verhält man sich gegenüber den Maras, die sich in den Weg stellen?“

Nach dem Tannishō §7 hat Shinran einmal gesagt:

“To practicers who have realized shinjin, the gods of the heavens and earth bow in homage, and maras and nonbuddhists* present no obstruction.”

With other words, the heart of the resilience is shinjin. Wie kann man das verstehen?

Wenn wir shinjin besitzen, dann kennen wir z.B. die Rechte Rede aus dem Achtfachen Pfad: Lüge nicht! Verleumde nicht! Entzweie nicht die Menschen durch deine Rede! Rede nichts Unnötiges! – Wenn wir mit diesem Maßstab die Reden gewisser Spitzenpolitiker hören, dann steigt zunächst Ekel in uns auf. Wir nehmen ihre Schamlosigkeit und moralische Verkommenheit wahr, wie Mundgeruch, der aus mangelnder Mundhygiene folgt. Das ist er erste Schritt! Man muss die Maras als Maras erkennen, man darf sie nicht beschönigen. (Selbstverständlich möchte ich keinen Menschen dämonisieren. Niemand ist von Natur aus ein Mara. Jeder Mensch ist immer frei, auch anders zu handeln. Aber manche Menschen verhalten sich so wie Maras.) Vielleicht dienen ihre Lügen einem guten Zweck, vielleicht erreichen sie damit etwas Positives. Aber das ist nicht der Punkt! Es gibt eine Art und Weise, wie man sich unter keinen Umständen seinen Mitmenschen gegenüber verhalten darf, auch wenn man mit seinen politischen Ansichten zu hundert Prozent Recht hätte (was meistens nicht der Fall ist). Man soll sich nicht solidarisieren mit Menschen dieses Schlags, selbst wenn man einige ihrer Gedanken für richtig hält.

Aus der buddhistischen Lehre folgt sogleich dieser Gedanke: Nicht wir werden der Erbe dieses schlimmen Karmas sein, sondern sie selbst. Wir haben nur insofern schlechtes Karma gemacht, dass wir Zeitgenossen solcher Individuen sein müssen. Aber damit ist unser schlechtes Karma schon erschöpft. Auch wenn diese Menschen mit ihrem Wirken die Erde zu einem unbewohnbaren Planeten machen sollten, so betrifft ihr Karma letztendlich nicht uns. Es fällt ausschließlich auf sie selbst zurück. Das ist der zweite Schritt: Wir machen uns klar, dass wir unabhängig von diesen Menschen sind! Sie können uns letztendlich kein Leid zufügen, es sei denn, wir haben es uns durch unser frühere Wirken schon selbst verdient. Dieser Gedanke führt zur Gelassenheit. Diese Menschen können uns nicht zwingen, dass wir mit Zorn auf sie reagieren.

Diese Menschen mögen die reichsten und mächtigsten Menschen der Welt sein, und sich großartig vorkommen, sie sind trotzdem arme Schlucker. Sie sind weniger beneidenswert als die Oblachlosen, die ich in Oakland und in letzter Zeit auch in Düsseldorf neben dem Bahnhof gesehen habe. Ein Bettler tut meist wenig schlimme Dinge. Aber ein Hate-speech-Agitator, der die ganze Welt durcheinanderbringt, kann fast unbegrenzt Schaden anrichten. Und er kennt dabei nicht die Folgen, die das für ihn selbst hat. Er ist im Sinne des Buddhismus vollkommen unwissend. Darum empfindet ein Mensch mit shinjin nicht Verachtung oder Zorn gegenüber einem solchen Individuum, sondern Mitgefühl. Das ist der dritte Schritt. In dem Augenblick, wo gegenüber der moralischen Verkommenheit Mitleid entsteht, verbeugen sich die Götter in Verehrung vor dem Nembutsu-Übenden, und die Maras verlieren ihren Einfluss auf ihn.

* CWS p. 655. „nonbuddhist“ is the translation for j. gedō 外道 „outer ways“.

IV.

Seeing the sentient beings of the nembutsu
Throughout the worlds, countless as particles, in the ten quarters,
The Buddha grasps and never abandons them,
And therefore is named “Amida”. (Hymns of the Pure Land,§82, CWS p.347)

Diedrich Bonhoeffer, der von den Nazis im KZ Flossenburg ermordete evangelische Theologe, schrieb in der Todeszelle ein in Deutschland sehr berühmtes Gedicht, das die Resilienz eines Christen gegenüber dem Bösen beschreibt. Zu Beginn des Jahres 1945 war das Böse wirklich hautnah an Bonhoeffer herangerückt. Damals verfasste er folgendes Neujahrsgedicht an seine Freunde außerhalb des KZ, die in der Angst vor ihrer eigenen Verhaftung oder alliierten Bombenangriffen lebten:

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr. (…)

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *