Der Gründer: Shinran Shōnin

Shinran Shōnin (1173-1263)

Shinran Shōnin wurde 1173 in Hino, einem Vorort von Kyōto geboren. Er entstammte einem Seitenzweig der berühmten Fujiwara-Familie, die zu seiner Zeit schon ihren Niedergang erlebte. Seine Mutter starb, als er acht Jahre alt war, sein Vater wurde buddhistischer Mönch. Ein Onkel brachte den neunjährigen Shinran ins Kloster. Wegen der fortgeschrittenen Stunde, so berichtet eine Legende, ließ der Abt jenes Klosters die Ordination auf den nächsten Morgen verschieben. Unzufrieden betrachtete der kleine Shinran einen Kirschbaum, der vor dem Tempeltor in voller Blüte stand. Da erkannte er die Vergänglichkeit und Unsicherheit aller Dinge und verfasste folgendes Gedicht:

「明日ありと 思う心の仇桜 夜半に嵐の 吹かぬものかは」
Myōnichi ari to omou kokoro no adasakura yohan ni kaze no fukanu mono kawa
(Denk ich im Herzen an morgen:/ Werden diese hinfälligen Kirschblüten/ Nicht schon in der Mitte der Nacht/ Vom Wind hinweggeweht sein?)

Zwanzig Jahre verbrachte Shinran in dem wohl wichtigsten Zentrum des japanischen Buddhismus seiner Zeit, dem Hauptkloster der Tendai-Schule auf dem Berg Hiei. Mit größtem Eifer unterzog er sich der buddhistischen Übung und dem Studium. Dabei spürte er immer mehr die große Differenz zwischen der Lebenswirklichkeit der Mönche und der buddhistischen Lehre. Die Mönche seiner Zeit waren Teil eines Staats im Staate, ihre Klöster verfügten über Ländereien, auf denen sie weitgehend Rechtshohheit besaßen. Ihnen unterstanden Leibeigene, und niedere Mönche verteidigten die Klöster als Krieger. War das Sinn und Zweck des Mönchtums? Shinran sah die Mängel nicht nur in den äußeren Umständen. Er sah sich als Kind der Zeit und wusste, dass deren Probleme auch in ihm steckten. Darum scheiterte er, wenn er zu sich ehrlich war, an den „zehntausend Übungen“, die auf dem Berg Hiei gelehrt wurden, darum war er zu keiner Verwirklichung fähig.

Voller Verzweiflung über sich und sein Zeitalter, in dem buddhistische Übung offenbar nicht mehr möglich war, verließ er mit 29 Jahren den Berg Hiei, um in einem kleinen Kannon-Tempel in Kyōto über „die zukünftigen Leben“ nachzudenken. Am fünfundneunzigsten Tag offenbarte ihm die Welterlösende Kannon, er solle sich an Meister Hōnen wenden.

Hōnen Shōnin lehrte damals am Stadtrand von Kyōto vor einer großen, gemischten Anhängerschaft, bestehend aus Mönchen und Laien, Männern und Frauen aller Schichten, die Anrufung des Namens des Buddha Amida. Fünf Jahre gehörte Shinran zum engsten Schülerkreis Hōnens und lernte von ihm den Buddhismus der anderen Kraft bis ins letzte Detail. Zeit seines Lebens hat er sich niemals für mehr als einen einfachen Schüler Hōnens gehalten.

Hōnens Nembutsu-Bewegung war in ihrer Offenheit eine Herausforderung an die alten Eliten. 1207 – Shinran war inzwischen 35 Jahre alt – wurde sie vom kaiserlichen Hof verboten, ihren klerikalen Anhängern wurde der mönchische Status aberkannt. Hōnen wurde nach Sanuki, Shinran nach Echigo verbannt. Beide sollten sich nie wiedersehen.

In Echigo gab Shinran das Mönchtum auf und heiratete. Fortan bezeichnete er sich als „dummen Kahlkopf“ (Gutoku), der „weder Mönch noch Laie“ sei. Nach seiner Begnadigung siedelte sich Shinran mit seiner Familie in der Provinz Hitachi in Ostjapan an, die im im Norden des Großraums von Tōkyō liegt. Hier widmete er sich mit großem Eifer und außerordentlichem Erfolg dem Aufbau einer Nembutsu-Gemeinde im ländlichen Raum.

Dass Shinran mit siebzig Jahren in seine alte Heimatstadt Kyōto zurückkehrte, mag viele seiner Anhänger überrascht haben. Aber in der Hauptstadt hatte er Ruhe und nur hier waren alle buddhistischen Schriften verfügbar, die für seine schriftstellerische Arbeit notwendig waren. 1247 war sein in chinesischer Sprache verfasstes Hauptwerk, das Kyōgyōshinshō, vollendet. Es folgten zahlreiche Schriften, die er für die einfachen Anhänger, in japanischer Silbenschrift schrieb, darunter die Japanischen Hymnen (Wasan), die heute bei Andachten oft rezitiert werden. In seinen letzten zwanzig Lebensjahren blieb Shinran vor allem schriftlich mit seinen Anhängern in Kontakt. Die Trennung, die am Anfang schmerzhaft gewesen sein mag, erwies sich im Nachhinein als Segen, denn sie zwang Shinran, seine Gedanken aufzuschreiben. So entstand ein Werk, das bis heute das geistige Fundament der Jōdo Shinshū bildet.

Im hohen Alter von 90 Jahren starb Shinran. Seine Anhänger errichteten ihm ein Grabmal in Kyōto, das sich im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte zu einer Pilgerstätte, dem Hongwanji-Tempel, entwickelte.

Shinrans Lehre nimmt ohne Zweifel eine Ausnahmestellung innerhalb der Lehren des Buddhismus ein. Indem er die buddhistische Meditation und die mönchische Regel aufgab, scheint Shinran dem Buddhismus seine Grundlage entzogen zu haben. Verschiedentlich hört man sogar, er habe den Buddhismus in sein Gegenteil verkehrt, aber dieses Urteil ist oberflächlich. Shinrans Lehre ist keine originelle Neuschöpfung oder mutwillige Uminterpretation, sie hat auch nichts mit dem Shintoismus zu tun, der einheimischen Religion Japans. Vielmehr geht Shinran in einer scharfsinnigen Analyse der religiösen und philosophischen Tradition einigen Tendenzen nach, die im Buddhismus immer schon vorhanden waren. So gelangt er zu einer Zuspitzung der gesamten buddhistische Lehre auf einen einzigen Punkt: die Essenz und der höchste Punkt der buddhistsichen Lehre ist die Anrufung des Buddhanamens im Vertrauen, d.h. getragen von der Kraft des Buddha.

Shinran denkt die spirituelle Entwicklung des Menschen radikal von Seiten des Buddha, die eigene Kraft des Menschen hat keinen Anteil daran. Erst wenn der Mensch all seine Kalkulationen, alle Manipulation und sämtliche Versuche, das Heil für sich oder andere zu erzwingen, aufgibt, ist er imstande, sich ganz der anderen Kraft des Buddha zu überlassen. Höchster Ausdruck des Sich-Anvertrauens ist die im Vertrauen erfahrene Buddhagegenwart (Nembutsu) in Form des ausgerufenen Namens (shōmyō). Eigentlich ruft der Buddha. Der Mensch hört diesen Ruf nur und erwidert ihn reflexartig. Alles Ichhafte ist nun im Licht des Buddha, wird dort aufgefangen und bewahrt. Es ist nichts zu tun, und es war nie etwas zu tun.

Dies ist nach Shinran die in allen buddhistischen Lehren durchscheinende Essenz des Buddhismus. Das moderne Wort Shin-Buddhismus trifft Shinrans Intention sehr genau, denn es bedeutet „Essenz-Buddhismus“.

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