„Morgens Lotus Sutra, abends Nenbutsu“ – Bei der Tendai Shu nachgefragt
Es gibt unterschiedliche Traditionen, wo Elemente des Reinen Land Buddhismus auch eine Rolle spielen. Wir haben bei Reverend Taiei Siebert von der Tendai Shu nachgefragt.
Kannst du dich kurz vorstellen, wer du bist, was du machst?
Mein Name ist Taiei Siebert. Taiei ist der Dharma-Name, den ich von meiner Lehrerin erhalten habe. Ich lebe mit meiner Familie in Sendai, im Nordosten Japans und arbeite dort an einer staatlichen Universität in der Abteilung für internationale Zusammenarbeit. Im Jahr 2021 erhielt ich Tokudo auf dem Berg Hiei in der Nähe von Kyoto und wurde somit zum Priester der Tendaishū ordiniert.
Könntest du deinen buddhistischen Werdegang kurz umreißen?
Als Jugendlicher begann ich, ausgehend von meinem Interesse für Kampfkünste und Samurai, Bücher wie das Hagakure oder das Gorin no Sho zu lesen. Um mehr über den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Verfasser zu erfahren, las ich dann auch Bücher über Buddhismus, Konfuzianismus und Shintō, wobei mich vor allem die buddhistische Lehre ansprach.
Später, während meines Japanologie-Studiums, begann ich mich dann intensiver mit den einzelnen Schulen des japanischen Buddhismus auseinanderzusetzen. Die Tendaishū hatte dabei eine besondere Anziehungskraft auf mich, wegen ihrer Vielfalt und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des japanischen Buddhismus.
Während meines Master-Studiums in Buddhismuskunde verbrachte ich ein Jahr an der Ryūkoku Universität in Kyoto und forschte über die Tendai Reine Land-Lehre unter Professor Tesshin Michimoto. Nach meinem Abschluss ging ich dann zurück nach Kyoto, um für das Journal The Eastern Buddhist zu arbeiten, welches damals zum Higashi Honganji gehörte.
Irgendwann begriff ich, dass ich mich zu sehr auf das rein akademische Studium der Lehren konzentriert und nie eine wirkliche Praxis etabliert hatte. Glücklicherweise wurde ich zu dieser Zeit meiner jetzigen Lehrerin Rev. Dr. Ryōei Tyler vorgestellt. Seither lerne ich unter ihrer Leitung.
Wie oben bereits geschrieben, wurde ich als Priester der Tendaishū ordiniert, aber meine Ausbildung ist noch nicht abgeschlossen. Um ein vollwertiger Priester der Tendaishū zu werden, muss man ein zweimonatiges Training im Gyōin auf dem Berg Hiei absolvieren, was mir wegen meiner privaten und beruflichen Umstände leider noch nicht möglich war.
Kannst Du ein paar Takte zur Tendai Shu sagen – Mitgliederzahlen weltweit und in Europa, wie heißt euer Haupttempel und wo liegt er, wer ist momentan euer Oberhaupt und in welcher Position?
Ich habe keine Informationen zu weltweiten Mitgliederzahlen, aber in Japan gibt es etwa eineinhalb Millionen Anhänger. Trotz ihrer historischen Bedeutung gehört die Tendaishū damit zu den kleineren der Hauptschulen des japanischen Buddhismus.
Der Haupttempel der Tendaishū ist der Enryakuji, ein Tempelkomplex, der mehrere Tempelgebäude auf dem Berg Hiei und den Berg selbst umfasst. Unser 259. Oberhaupt ist seit Februar 2025 Daisōjō Kōken Fuji.
Wie ist die aktuelle Situation in Deutschland bzw. Europa aus?
Außerhalb Japans ist die Tendaishū noch recht klein, aber es gibt Fortschritte. In unserer Sangha gibt es momentan 24 ordinierte Mitglieder, die offiziell beim Haupttempel registriert sind. Einige weitere werden diesen Sommer in Japan Tokudo erhalten. Wir haben Priester in Italien, der Schweiz, Belgien, Spanien, England und voraussichtlich auch bald in Deutschland. Ich selbst befinde mich zwar in Japan, versuche aber bei der Verbreitung der Tendaishū im deutschsprachigen Raum zu helfen, indem ich auf meiner Webseite tendaishu.de Informationen bereitstelle.
Außerhalb Europas haben wir Mitglieder in den USA, Kanada, Südamerika, Israel, Australien, China und Japan.
Bisher haben vier Priester aus unserer Sangha Gyōin erfolgreich abgeschlossen. Drei weitere werden hoffentlich bald folgen. Für die Etablierung der Tendaishū außerhalb Japans ist es sehr wichtig, dass mehr ausländische Priester dieses Training absolvieren, da man nur dann einen Tempel leiten und Schüler annehmen darf.
Wie kann ich mir eine traditionelle Andacht der Tendai Shû vorstellen, welchen Inhalt hat die?
Der Inhalt der täglichen Andacht zu Hause ist nicht genau festgelegt. In der Regel hält man sich an das, was einem sein Lehrer vorgibt bzw. was in dem Tempel, zu dem man gehört, üblich ist.
Typischerweise gehört zur Andacht die Ehrerbietung an Buddha, Dharma und Sangha, Buße, ein Vers zur Eröffnung des Sutra und anschließend die Rezitation eines oder mehrerer Sutras, wie etwa das Herz Sutra, einzelne Kapitel des Lotus Sutra oder das Amitabha Sutra. Dazu kommen kürzere Texte, wie zum Beispiel das Endonsho, verschiedene Mantra, Dharani, Nenbutsu, Übertragung der Verdienste usw.
Bei Tempelzeremonien und Totenfeiern unterscheidet man zwischen exoterischen und esoterischen Ritualen.
Die exoterischen Lehren wurden vom Buddha gemäß den Fähigkeiten seiner Zuhörer dargelegt, um ihnen den Weg zur Erlösung für sich und für andere zu zeigen.
Der esoterische Buddhismus wiederum ist eine geheime Lehre, die auf direkte Weise die Welt der buddhistischen Erleuchtung offenbart, in der man die Einheit von sich selbst mit Buddha wahrnimmt und versucht, mithilfe seiner Kraft den Zustand des Erwachens zu erreichen.
Dementsprechend konzentrieren sich exoterische Rituale auf das Rezitieren von Sutras, um die buddhistische Lehre zu verinnerlichen, unheilsames Handeln zu überwinden und die eigene Buddha-Natur hervorzukehren, während es bei esoterische Ritualen um die rituelle Vereinigung (Adhisthana) mit den Buddhas und Bodhisattvas geht und um Gebete, die den fühlenden Wesen Nutzen bringen sollen.
Bei beiden Arten von Ritualen geht es am Ende um die Entwicklung des Geistes. Daher können bei den Zeremonien der Tendaishū sowohl exoterische als auch esoterische Elemente vorkommen.
Zwei der wichtigsten exoterischen Rituale sind das Hokke senbō, ein Bußritus basierend auf dem Lotus Sutra, und das Reiji sahō, mit dem Amitabha Sutra im Mittelpunkt.
Das Kōmyōku shakujō ist ein esoterisches Ritual, das ebenfalls häufig bei Beerdigungen und Totenfeiern durchgeführt wird. Bei diesem Ritual wird das Lichtmantra rezitiert, was schlechtes Karma tilgen und dem Verstorbenen bei der Geburt im Reinen Land helfen soll.
Welche Rolle spielt Amida Buddha in der Tendai Shu?
Amida Buddha spielt eine große Rolle, insbesondere in den exoterischen Lehren der Tendaishū. In unserer Schule gibt es den Satz „asa daimoku, yū nenbutsu“, was übersetzt in etwa heißt: „Morgens (der Titel des) Lotus Sutra, abends Nenbutsu.“ Das kann sich zum einen auf die oben erwähnten Rituale des Hokke senbō und Reiji sahō beziehen, die man jeweils morgens und abends durchführt. Der Satz weist aber auch auf eine tiefere Bedeutung hin, nämlich, dass die Reine Land-Lehren, wie auch die anderen buddhistischen Lehren alle zu dem im Lotus Sutra offenbarten großen Buddha-Fahrzeug gehören, welches schlussendlich sämtliche Wesen zur Buddhaschaft führt.
Es ist zwar möglich, bereits durch das Rufen von Amida Buddhas Namen im rechten Glauben die Geburt im Reinen Land zu erreichen, wer aber über die Befähigung und die entsprechende Neigung verfügt, kann in unserer Schule auch fortgeschrittenere Nenbutsu-Übungen praktizieren. So wie etwa Visualisierungen von Amidas physischen Merkmalen oder die Kontemplation seiner wahren Natur.
Eine der anspruchsvollsten Praktiken mit Amida Buddha im Zentrum ist das Jōgyō zanmai. Diese Übung basiert auf dem Pratyutpanna Samadhi Sutra und ist eine der vier Samadhi-Praktiken, die Zhiyi im ersten Kapitel des Maka Shikan beschreibt. Übersetzt bedeutet Jōgyō zanmai “Samadhi des ständigen Schreitens,” da die Praktizierenden für eine Dauer von 90 Tagen ohne Unterlass in einer Übungshalle um ein Bildnis von Amida Buddha schreiten, seinen Namen sprechen und sein Antlitz visualisieren.
Bei Erschöpfung können sie sich an Handläufen abstützen, die zwischen den Säulen der Halle angebracht sind oder sich an Hanfseilen festhalten, die von der Decke hängen. Aber für die gesamte Dauer von 90 Tagen ist es ihnen nicht gestattet, sich zu setzen oder sich hinzulegen. Schritt für Schritt, Wort für Wort, Gedanke für Gedanke, verweilt man einzig in Amida Buddha.
Wenn man schließlich Amida Buddha klar vor sich sieht, kontempliert man anhand dieser Erscheinung die dreifache Wahrheit (Leere, provisorische Existenz und die Mitte), was gemäß Zhanrans Kommentar zu der Erkenntnis führt, dass sowohl der Geist des Buddhas als auch der eigene Geist nichts anderes sind als der Mittelweg.
Wie sieht Deine persönliche Praxis aus? Hältst Du Andachten vor dem Butsudan, meditierst Du, sprichst Du auch mal so das Nenbutsu?
Meine persönliche Praxis besteht hauptsächlich aus Andachten und Meditation. Es gibt viele verschiedene Meditationsformen innerhalb der Tendaishū. Angefangen von einfacher Konzentration auf den Atem, über Metta-Meditation, bis hin zur Kontemplation der Dreitausend Welten in einem Gedankenmoment und der Dreifachen Wahrheit in einem Geist.
Da mein persönlicher Schwerpunkt auf dem Dharma-Tor des Reinen Landes liegt, spielt meditatives Nenbutsu ebenfalls eine große Rolle in meiner Praxis. Aber auch außerhalb der meditativen Versenkung begleitet mich das Nenbutsu über den Tag.


